Nicht Theater machen, sondern Theater denken

Oder: Dramaturg_innenparty in Linz!
gift-Zeitung, Ausgabe April 2015
03.03.2015 (All day)

Tanja Brandmayr über die Jahreskonferenz der Dramaturgischen Gesellschaft, die vom 29. Jänner bis zum 1. Februar in Linz stattfand, seit 1982 erstmalig wieder in Österreich. Der Arbeitstitel der Konferenz lautete: Was alle angeht. Oder: Was ist (heute) populär?

 

Bereits der Titel der Tagung legt eine interessante Ambivalenz an: Während der erste Teil Was alle angeht auf gesellschaftliche Relevanz abzielt, holt die Frage Oder: Was ist heute populär? mit einem Schwung alles Aktuelle ins Boot, von diskursiv-künstlerischen Strömungen bis hin zur Partizipation, zur Fernsehserie, zu Videospielen, Social Media, etc – also alles, was sich unter dem Begriff „populär“ so frischfrei denken lässt. Im Sinne dieses weit aufgeschlagenen zeitgenössischen Spektrums steht zu Beginn der Tagung der deutschsprachigen Dramaturg_innen ein Eröffnungsgespräch mit Diedrich Diedrichsen, dem Theoretiker von Pop, Politik und neuester Kunst schlechthin, von dem übrigens auch der Satz „Was alle angeht“ entlehnt ist, während am Abend der darauf folgenden Tage auch schon mal Musical geboten wird. Einfach ist die Sache mit dem Populären – zwischen Kritik, der Suche nach neuen Kunstformen und Unterhaltung – also nicht.

Das Dramaturgische

Zunächst aber zur Dramaturgischen Gesellschaft selbst: Mit Sitz in Berlin verbindet sie Theatermacher_innen aller Genres und Organisationsformen aus dem gesamten deutschsprachigen Raum. Sie versteht sich als „offene Plattform für den Austausch über die künstlerische Arbeit, die Weiterentwicklung von Ästhetiken, Produktionsweisen und nicht zuletzt über die gesellschaftliche Funktion des Theaters“. Die knackige Formulierung über das Kerngeschäft von Dramaturg_innen, wonach diese nicht Theater machen, sondern Theater denken, könnte man sinngemäß auch auf die Arbeit der Dramaturgischen Gesellschaft umlegen: Auch diese denkt das Theater – in Form von jährlichen Konferenzen mit diversen Schwerpunkten und des Magazins dramaturgie. Dass das diesjährige Konferenzthema des Populären in Linz angesiedelt wurde, hat wohl auch mit der Attraktion des neuen Musiktheaters zu tun, das unter anderem das Populäre als zeitgemäße Musiktheater- und Musicalschiene benennt. Und zum anderen mit dem Ars Electronica Center, das das Populäre, wieder in anderer Interpretation, als sich völlig umgestaltende Kommunikationsform innerhalb der neuen Technologien thematisiert. Die Institutionen waren, neben der Kunstuniversität, Gastgeber bzw. Kooperationspartner für die Tagung und über 200 Gäste. Vier Tage dichtes Konferenzprogramm umfasste theoretischen Input, Impulsreferate, Key Notes, Tischgespräche, Streitgespräche, Praxisteile, Partizipation, Vermittlung, Writers‘ Rooms, szenische Lesungen, performative Impulse, Musiktheater, Musicaltheater, Neue Medien, Crowd, Graphic Novel, Videospiel. Vorweggenommen kann werden, dass im Laufe der Tage zwar hin und wieder die Tiefen und Untiefen der Emotion aufgeflammt sind („Populär ist, was emotional ist?“). Manches Mal wurden auch die Kategorien E und U bemüht, allerdings erweisen diese sich aber kaum noch als brauchbare Begriffe. Als wenig zweckmäßig erweist sich auch das Begriffspaar Hochkultur im Gegensatz zu Populärkultur: es zeugt von sozialer Abgrenzung.

Das Populäre

In dieser breiten Diskussion des Populären geht nun der Versuch dahin, einige symptomatische Gegensätze aufzuzeigen, innerhalb derer dasjenige angesiedelt ist, was uns angeblich alle angehen soll. Wenngleich sich die Übersprünge einer Pop(musik)kultur und Theaterkultur nicht unbedingt leicht erfassen lassen, kann festgestellt werden, dass man heutzutage kaum ohne die kollektiv gewordene Erziehung der Popmusik und deren Mechaniken arbeiten kann – mehr oder weniger sind wir bereits alle Produkte von Popkultur. Als kleinste (performative) Einheit der Popmusik führt etwa Diedrich Diedrichsen die Pose an. Später, in einer anderen Diskussion, kommt noch einmal die Pose und das performative Element der Authentizität ins Spiel: Die Errungenschaft der „Populärkultur“ mit ihrer Anbindung an die Popmusik bedeutet im Kern weniger den Einsatz von Video, Mikro und Tempo, dies bildet nur die Oberfläche – sondern es beschreibt das performative Doppelbild der Pose, also einer zusammengesetzten Attitüde aus Darstellung und Echtheit. Wir haben es mit dem popkulturellen Gestus also mit Performer_innen zu tun, die so etwas wie echte Fiktion sind: Es handelt sich um einen spezifischen Authentizitätsanspruch. Als Beispiele genannt wurden René Pollesch mit seinem Setting, seine Akteur_innen quasi in der Formation einer Band auftreten zu lassen – und etwa miteinander und gegeneinander spielen zu lassen; sowie She She Pop, die in einer Produktion gemeinsam mit ihren Vätern aufgetreten sind, und damit berührende Authentizität auf die Bühne gebracht haben. Mit dieser Definition lässt sich zum einen erklären, was performatives Spiel und einen popkulturtheoretisch-performativen Kontext auf der Bühne ausmacht (und was nicht). Zum anderen führt dieses Doppelbild aus Darstellung und Echtheit in anderen theatralen Entwicklungssträngen zu Darstellungsformen, die zwar nicht unbedingt Popkultur sind, aber zumindest darstellerische Erweiterung oder auch Partizipation: Sofern mit Partizipation nicht nur „Mitmachtheater“ gemeint ist, bringt Partizipation Laien oder auch spezifische Personengruppen als „Expertinnen ihrer eigenen Zusammenhänge“ auf die Bühne oder in Kunstzusammenhänge, die sozusagen ihr eigenes Leben darstellen und verhandeln. So gemeint entfaltet das Partizipative sein Versprechen auf Echtheit, vielleicht auch, je nach Zusammenhang, auf Selbstermächtigung.

Das Populäre – es bleibt allerdings schwer greifbar. Popmusikkultur im Diedrichsen’schen Sinn ist ein höchst ausdifferenziertes System, das sich ständig wandelt und neue Varianten produziert. Das Populäre ist im Gegensatz dazu, laut Wikipedia, das von vielen geteilte Gemeinsame, das „ohne besonderes Vorwissen Verständliche". Was das jedoch genau sein soll, darüber scheint man sich in der Praxis kaum einig, der Begriff erweist sich als (zu) breit einsetzbar. Populärkultur, die „ohne Vorwissen“ also voraussetzungslos oder niederschwellig sein soll, könnte zum Beispiel auch als Trivialkultur gelten. So stellt der Philosoph Robert Pfaller das Triviale der Hochkultur, und dem Populären die Klassik gegenüber. Er führt außerdem das apollinische und dionysische Element ins Treffen. In typologisch geschichtlicher Reinform könnte das bedeuten: Das dionysische Prinzip des Rausches, in dem die Trennung zwischen Akteur_innen und Publikum aufgehoben scheint, entspricht dem Pop. Im Gegensatz dazu markiert das Theater das Apollinische, die bürgerliche Darbietung und die Trennung von Darsteller_innen und Zuschauer_innen. Letztere werden zudem, wenig rauschhaft, zur Reflexion der Nachwirkung des Dargebrachten aufgerufen. Hier, in diesem Gegensatz, könnte sich laut Robert Pfaller eine produktive Differenz ergeben, von der das Theater profitieren könne, und es sei an dieser Stelle auf seinen Vortrag hingewiesen, der in der nächsten Ausgabe von dramaturgie abgedruckt sein wird.

Die gesellschaftliche Relevanz

Ein bei der Tagung recht spannend und kontrovers diskutierter Zusammenhang ist die gesellschaftliche Bedeutung des Theaters selbst – das Theater zwischen Mainstream, Spezialisierung, hochproduktiver Mehrsparten-Maschine und nicht zuletzt als gesellschaftlich-utopische Heterotopie, die im gebrainwashten Mainstream allerdings von Marginalisierung bedroht ist. Dazu der immer für eine fruchtbare Provokation aufgelegte Carl Hegemann, Dramaturg am Thalia Theater: „Theater ist heute nicht mehr relevant, und das ist die Chance“. Aus seinem Streitgespräch mit Peter Spuhler nehme ich Statements mit, die das Theater im Sinne der aktuellen Notwendigkeit als „Künstlertheater“ (zitiert nach Bernd Stegemann), als „Fluchtburgen gegen den Kommerz“ (zitiert nach Alexander Kluge) genauso begreifen, wie als das offene „(He)Art of the City“ (zitiert nach einem Gebrüder-Cohen-Film), das sich im Namen des Dialogs und einer gesellschaftlichen Verpflichtung für andere Kunstformen oder auch konsequent für kunstferne Nutzungen öffnet. In diesem Diskussionskontext fanden sich die vielleicht brisantesten Stellungnahmen zur aktuellen Lage der Theaterkunst.

Relevant sind unter dem Titel Was uns alle angeht. Oder: Was ist (heute) populär? allerdings alle Formen, Entries und Re-Entries, die Umformung, Mischung des Bestehenden mit dem Neuen, von Inhalt, Form bis Technik bedeuten können. So ist das Populäre schlichtweg auch völlig neue Kommunikationsform, in diesem Sinne spricht Gerfried Stocker vom Ars Electronica Center bei der Abschlussdiskussion von sich neu ausgestaltenden Rezeptionsgewohnheiten einer Generation von digital natives. Neue Medien schaffen zwar die Bühne in keiner Weise ab (auch an anderer Stelle war das zu hören, dass im Gegenteil die neuen Medien immer auch die Stärken der „alten Formen“ zutage bringen), dennoch vollzieht sich durch den Gebrauch der neuen Kommunikationsmedien „unter der Hand eine völlige Transformation des Publikums“. Trotzdem, und nicht nur im Namen von IT, Crowd und Videogaming, hat man hin und wieder ein wenig das Gefühl, dass so neu alles nicht ist, wie es an der einen oder anderen Stelle vorgestellt wurde. Nicht zuletzt holte die Kulturwissenschaftlerin Birgit Mandel das Dramaturg_innenpublikum insofern auf den alten Teppich des Unpopulären zurück, indem sie auf die schwierige finanzielle Lage besonders der Theater in Deutschland hinwies: Was dort wiederum zu einem gewissen Trend führte, nämlich größere Häuser für freie Gruppen zu öffnen. Und so bot das „Populäre“ zwischen dem Relevanten und dem Aktuellen zahlreiche Anknüpfungspunkte, Diskurslinien und Praxisbeispiele. Natürlich sind im Rahmen der Tagung Widersprüche aufgetaucht, die sich wie angesprochen zwischen Theorie, emanzipatorischer Praxis, Aktualität, Relevanz, kulturpolitischem Interesse und Kommerz bewegten. Dass dann nicht alles so heiß gegessen wird, wie am Podium gekocht, bzw. dass Theater ihre eigenen Schwerpunkte für sich und ihr Publikum ableiten, zeigt eine Stellungnahme lokaler Theatermenschen. Zur Tagung und ihrer Begrifflichkeit des Populären befragt, meinen Silke Dörner und Sigrid Blauensteiner vom Theater Phönix: „Die Jahrestagung der Dramaturgischen Gesellschaft bot durch die unterschiedlichen Zugänge der Vortragenden interessante Einblicke in eine zur Zeit in deutschsprachigen Theatern durchaus kontroversiell geführte Diskussion. In einem freien Theater wie dem Theater Phönix spielen allerdings Unterscheidungskriterien wie Pop- oder Hochkultur bei der Spielplangestaltung eine untergeordnete Rolle. Wir wollen dem Publikum eine große Bandbreite an Theater bieten. Das schließt neben klassischen und zeitgenössischen Stücken ebenso Adaptionen populärer Stoffe sowie unterschiedliche Regiezugriffe ein. Ob das populär ist, müssen die Zuschauer_innen entscheiden.“ Populär kann also vieles bedeuten, das haben wir gelernt – bei einer Tagung, die hoffentlich längerfristig ihre Spuren in der Stadt hinterlassen wird.

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Tanja Brandmayr ist freie Autorin, Kunst- und Kulturschaffende, sie hat bei der Tagung den Workshop Ich hier. Ihr dort – Sprache in Bewegung abgehalten.